Kapitel 9

Mein erster Gedanke war, daß Milverton den Verstand verloren hatte. Schuldgefühle und Reue – nehmen zuweilen die seltsamsten Formen an; da der junge Mann sich diese verabscheuungswürdige Tat nicht eingestehen wollte, hatte sein Gewissen ihm vorgegaukelt, daß Lord Baskerville noch lebte – und daß er Lord Baskerville sei.

»Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte ich. »Offenbar waren die Berichte über Ihren Tod stark übertrieben.«

»Bitte scherzen Sie nicht«, stöhnte Milverton.

»Ich habe nicht gescherzt.«

»Aber … Oh, ich verstehe.« Wieder war das unterdrückte Lachen zu hören, das eher einem gequälten Aufschrei glich. »Ich kann es Ihnen nicht zum Vorwurf machen, wenn Sie mich für verrückt halten, Mrs. Emerson. Aber ich bin es nicht – noch nicht –, obwohl ich manchmal kurz davorstehe. Lassen Sie mich erklären.«

»Ich bitte darum«, sagte ich mit Nachdruck.

»Ich nenne mich Lord Baskerville, da ich nun diesen Titel trage. Ich bin der Neffe des verstorbenen Lords und somit sein Erbe.«

Ich brauchte einige Sekunden, um diese Nachricht und ihre finstere Bedeutung zu erfassen.

»Warum, um Himmels willen, laufen Sie dann mit einem falschen Namen herum?« fragte ich. »Kannte Lord Baskerville – der verstorbene Lord Baskerville – Ihre wahre Identität? Bei Gott, junger Mann, ist Ihnen denn nicht klar, daß Sie sich in höchstem Maße verdächtig machen?«

»Selbstverständlich. Seit dem Tod meines Onkels war ich so aufgewühlt, daß ich wirklich glaube, das Fieber, das ich mir eingefangen habe, ist dadurch noch schlimmer geworden. Ehrlich gesagt, hätte ich mich ansonsten schon längst aus dem Staub gemacht.«

»Aber Mr. Milverton … Wie soll ich Sie denn jetzt anreden?«

»Ich heiße Arthur. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Sie mich so nennen.«

»Also, Arthur – es ist wohl besser, daß Sie nicht davonlaufen konnten. Das wäre einem Schuldgeständnis gleichgekommen. Und Sie behaupten, wenn ich Sie richtig verstehe, daß Sie nichts mit dem Tod Ihres Onkels zu tun haben.«

»Bei meiner Ehre als britischer Edelmann«, flüsterte er angespannt.

Es fiel mir schwer, diesen eindrucksvollen Schwur in Zweifel zu ziehen, aber ich hatte immer noch meine Vorbehalte. »Erzählen Sie«, forderte ich ihn auf.

»Mein Vater war der jüngere Bruder des verstorbenen Lords«, fing Arthur an. »Als junger Bursche zog er sich wegen einer jugendlichen Torheit die Mißbilligung seines strengen Erzeugers zu. Soweit ich weiß, war der alte Herr ein Despot, der sich zur Zeit des Puritanismus wohler gefühlt hätte als in unserem Jahrhundert. Ganz im Einklang mit dem Alten Testament schlug er ohne Umschweife die rechte Hand ab, die sein Mißvergnügen hervorgerufen hatte, und setzte den mißratenen Sohn vor die Tür. Mein armer Vater wurde mit einem kleinen monatlichen Wechsel nach Afrika geschickt und seinem Schicksal überlassen.«

»Hat sein Bruder sich denn nicht für ihn eingesetzt?«

Arthur zögerte einen Augenblick. »Ich will nichts vor Ihnen verheimlichen, Mrs. Emerson. Der verstorbene Lord Baskerville war mit dem grausamen Verhalten seines Vaters völlig einverstanden. Er erbte den Titel nur ein Jahr nach der Verbannung seines Bruders. Eine seiner ersten Handlungen war, meinem Vater zu schreiben, es sei reine Zeitverschwendung, ihn um Hilfe zu bitten, da ihn persönliche Überzeugung und Achtung als Sohn dazu zwängen, seinen Bruder zu verstoßen, wie es schon ihr gemeinsamer Vater getan habe.«

»Wie gefühllos«, meinte ich.

»Meine ganze Kindheit habe ich zu hören bekommen, was für ein Schurke er sei«, sagte Arthur.

Ein Schauer lief mir über den Rücken, als ich dieses folgenschwere Geständnis hörte. Ahnte der junge Mann denn nicht, daß er mit jedem Wort sein eigenes Grab schaufelte? Glaubte er, ich würde, was seine Identität betraf, Stillschweigen bewahren? Oder vertraute er auf andere Mittel und Wege, um sich vor Entdeckung zu schützen?

Arthur erzählte weiter: »Jede Nacht hörte ich, wie mein Vater ihn verfluchte, wenn er … nun, ich möchte nichts beschönigen … wenn er zuviel getrunken hatte. Das geschah, was ich bedauerlicherweise zugeben muß, mit den Jahren immer häufiger. Trotzdem war mein Vater, wenn er er selbst war, ein sehr liebenswerter Mann. Durch seine anziehende Art eroberte er das Herz meiner Mutter, der Tochter eines Gentleman aus Nairobi. Trotz des Widerspruchs ihrer Eltern heirateten sie. Meine Mutter verfügte über ein eigenes kleines Vermögen, und davon lebten wir. Sie liebte ihn über alles, das weiß ich genau. Niemals hörte ich eine Klage oder einen Vorwurf über ihre Lippen kommen. Doch vor sechs Monaten, nachdem Vater den unvermeidlichen Folgen seines Lasters erlegen war, überzeugte mich meine Mutter, daß mein Haß gegen meinen Onkel ungerechtfertigt sein könnte. Sie tat das, denken Sie daran, ohne meinen Vater nur im geringsten zu tadeln …«

»Was vermutlich keine leichte Aufgabe war«, unterbrach ich. Inzwischen hatte ich mir ein klares Bild von Arthurs Vater gemacht und fühlte großes Mitleid mit seiner Mutter.

Arthur achtete nicht auf meinen Einwurf und fuhr fort: »Außerdem wies sie mich darauf hin, daß Lord Baskerville keine Kinder hatte, ich also sein Erbe war. Er hatte keine Anstalten unternommen, mit mir in Verbindung zu treten, obwohl sie ihn pflichtgemäß vom Tod seines Bruders in Kenntnis gesetzt hatte. Doch rechtfertigten, wie sie sagte, seine Nachlässigkeit und Ungerechtigkeit kein schlechtes Benehmen meinerseits. Ich schuldete es mir selbst und meiner Familie, mich dem Mann vorzustellen, den ich irgendwann beerben würde. Sie überzeugte mich; doch ich verriet ihr nie, daß ihr das gelungen war, denn ich hatte schon selbst einen närrischen Plan gefaßt. Als ich Kenia verließ, sagte ich ihr nur, daß ich beabsichtigte, in der weiten Welt mein Glück mit der Photographie zu versuchen, die schon seit meiner Jugend mein Steckenpferd gewesen war. Sicherlich hat sie von dem Geheimnis gelesen, das den Tod meines Onkels umgibt, doch sie hat keine Ahnung, daß der Charles Milverton aus der Zeitung ihr mißratener Sohn ist.«

»Aber sie muß vor lauter Sorge um Sie schier außer sich sein!« rief ich aus. »Sie weiß ja nicht, wo Sie sind.«

»Sie glaubt, ich sei auf dem Wege nach Amerika«, beichtete der junge Mann leise. »Ich sagte ihr, ich würde ihr meine Adresse schicken, wenn ich mich erst einmal häuslich niedergelassen hätte.«

Ich konnte nur seufzend den Kopf schütteln. Allerdings war es sinnlos, Arthur dazu zu drängen, sich sofort mit seiner Mutter in Verbindung zu setzen; die Wahrheit würde viel schmerzlicher sein als die Ungewißheit, in der sie im Augenblick schweben mußte, obwohl ich, was Arthurs Zukunft betraf, die schrecklichsten Vorahnungen hatte. Aber es bestand immer noch die Möglichkeit – und sei sie auch noch so abwegig –, daß ich mich irrte.

»Mein Plan war, mich meinem Onkel als Fremder vorzustellen und sein Wohlwollen und Vertrauen zu gewinnen, ehe ich meine wahre Identität preisgab«, erzählte Arthur. »Sie brauchen nichts dazu zu sagen, Mrs. Emerson. Es war ein naiver Einfall, der in einen Kitschroman gehört. Ich schwöre Ihnen, ich hatte keine andere Absicht, als mich durch harte Arbeit und Aufopferung zu beweisen. Selbstverständlich kannte ich das Vorhaben meines Onkels, in Ägypten zu überwintern – wahrscheinlich hat der Großteil der englischsprechenden Erdbevölkerung davon gewußt. Also reiste ich nach Kairo und bewarb mich gleich nach seiner Ankunft um eine Stelle. Meine Empfehlungsschreiben …«

»Gefälscht?« fragte ich.

»Ich konnte ihm unter diesen Umständen kaum echte Empfehlungen vorlegen, oder? Die, die ich verfaßte, waren sehr beeindruckend, das kann ich Ihnen versichern. Er stellte mich sofort an. Und das war der Stand der Dinge, als er starb. Er wußte nicht, wer ich bin, obwohl …«

Er zögerte. Da ich sicher war, was er sagen wollte, beendete ich den Satz für ihn. »Sie glauben, er hatte eine Vermutung? Nun, das tut nichts mehr zur Sache. Mein lieber Arthur, Sie müssen den Behörden Ihr Herz ausschütten. Zugegebenermaßen macht Sie das in höchstem Maße des Mordes verdächtig …«

»Aber es gibt keinen Beweis für einen Mord«, unterbrach Arthur. »Die Polizei war davon überzeugt, daß seine Lordschaft eines natürlichen Todes gestorben ist.«

Damit hatte er recht; allerdings war es nicht unbedingt ein Zeichen für seine Unschuld, daß er mich so rasch auf diesen kleinen Denkfehler hingewiesen hatte. Trotzdem war es sinnlos zu fragen, wer Lord Baskerville ermordet hatte, solange ich nicht beweisen konnte, daß wirklich ein Mord stattgefunden hatte.

»Um so mehr Grund dafür, daß Sie die Wahrheit sagen«, beharrte ich. »Sie müssen sich offenbaren, um Ihr Erbe antreten zu können …«

»Pssst« Arthur legte mir die Hand auf den Mund. Die Angst um meine eigene Sicherheit, die ich vor lauter Interesse an seiner Erzählung vergessen hatte, kam nun zurück; doch noch ehe ich Zeit hatte, mehr als einen Anflug von Beunruhigung zu empfinden, fuhr er flüsternd fort: »Da ist jemand im Gebüsch. Ich habe gesehen, daß sich etwas bewegt hat …«

Ich nahm seine Hand von meinem Mund. »Das ist nur Abdullah. Ich war nicht so leichtsinnig, allein zu kommen. Aber er hat nicht mitgehört …«

»Nein, nein.« Arthur erhob sich, und ich dachte schon, er würde ins Gebüsch stürmen. Doch gleich darauf entspannte er sich wieder. »Es ist weg. Aber es war nicht Abdullah, Mrs. Emerson. Die Gestalt war zierlicher und kleiner – bekleidet mit durchscheinenden, schneeweißen Gewändern.«

Ich hielt den Atem an. »Die Frau in Weiß«, keuchte ich.

Ehe wir uns trennten, bat ich Arthur um die Erlaubnis, Emerson seine Geschichte erzählen zu dürfen. Er stimmte zu, wahrscheinlich, weil ihm klar war, daß ich es mit oder ohne seine Billigung tun würde. Mein Vorschlag, er solle am nächsten Tag nach Luxor fahren, um seine wahre Identität zu gestehen, wurde abgelehnt, und nach einer kurzen Erörterung mußte ich zugeben, daß sein Einspruch berechtigt war. Die richtigen Adressaten für diese Nachricht waren selbstverständlich die britischen Behörden, und in Luxor gab es niemanden, dessen Rang hoch genug gewesen wäre, um sich mit einer solchen Angelegenheit zu befassen. Der Konsulatsvertreter war Italiener und beschäftigte sich hauptsächlich damit, Budge vom Britischen Museum mit gestohlenen Antiquitäten zu versorgen. Arthur versprach, er werde sich Emersons Entscheidung, welche Schritte er unternehmen solle, beugen, und ich versicherte, ihm zu helfen, wie ich nur konnte.

Es heißt, ein Geständnis ist wohltuend für die Seele. Ganz offensichtlich hatte ich Arthurs Seelenfrieden wiederhergestellt. Mit schwingendem Schritt ging er leise pfeifend davon.

Doch, ach, mein Herz war schwer, als ich mich aufmachte, um dem treuen Abdullah mitzuteilen, daß ich in Sicherheit sei. Ich mochte den jungen Mann – nicht weil er, wie Emerson behauptet, ein gutaussehendes Exemplar englischer Männlichkeit darstellte, sondern wegen seiner Freundlichkeit und seines angenehmen Wesens. Trotzdem machten gewisse Züge seines Charakters keinen allzu guten Eindruck auf mich, denn sie erinnerten mich an seine Beschreibung des charmanten Taugenichts’, der sein Erzeuger gewesen war. Die Leichtfertigkeit, die er angesichts der gefälschten Empfehlungsschreiben an den Tag gelegt hatte, die unreife Torheit seines romantischen Plans, das Wohlwollen seines Onkels zu gewinnen, und auch andere Dinge, die er erzählt hatte, wiesen darauf hin, daß der gute Einfluß seiner Mutter die von der Vaterseite ererbte Oberflächlichkeit nicht hatte wettmachen können. Ich wünschte ihm alles Gute; aber ich befürchtete, seine durchaus glaubhafte Geschichte könnte nur ein Versuch gewesen sein, mich auf seine Seite zu ziehen, ehe die Wahrheit ans Licht kam.

Ich fand Abdullah (mehr oder weniger) verborgen hinter einer Palme. Als ich ihn nach der Erscheinung in Weiß befragte, bestritt er, eine solche gesehen zu haben. »Aber«, fügte er hinzu, »ich habe dich beobachtet, oder vielmehr die Finsternis, in die du verschwunden bist; nie habe ich meinen Blick abgewendet. Sitt Hakim, es ist nicht notwendig, Emerson etwas zu erzählen.«

»Sei doch nicht so ein Feigling, Abdullah«, antwortete ich. »Ich werde sagen, daß du dein Bestes getan hast, um mich zurückzuhalten.«

»Schlag mich bitte kräftig auf den Kopf, damit ich eine Beule habe, die ich ihm zeigen kann.«

Unter normalen Umständen hätte ich das für einen Scherz gehalten, doch obwohl Abdullah ziemlich viel Sinn für Humor hat, hätte er nie über so etwas gescherzt.

»Sei doch nicht lächerlich«, sagte ich.

Abdullah stöhnte.

Ich konnte es kaum erwarten, Emerson zu erzählen, daß ich den Mord an Lord Baskerville aufgeklärt hatte. Selbstverständlich gab es ein paar Kleinigkeiten, die noch offenstanden, aber ich war mir sicher, daß ich die Antwort bald finden würde, wenn ich mich ernsthaft der Angelegenheit widmete. Ich beabsichtigte, noch in dieser Nacht mit der Arbeit anzufangen, doch leider schlief ich ein, ehe ich zu irgendwelchen Ergebnissen kam.

Beim Aufwachen war mein erster Gedanke die erneute Sorge um Emerson. Aber meine Vernunft sagte mir, daß das ganze Haus schon auf den Beinen gewesen wäre, wenn es einen Zwischenfall gegeben hätte; die Liebe jedoch, die nie besonders anfällig für Logik ist, beschleunigte meine Vorbereitungen zum Aufbruch ins Tal.

Obwohl ich früh dran war, stand Cyrus Vandergelt schon im Hof, als ich aus meinem Zimmer kam. Zum erstenmal sah ich ihn in Arbeitskleidung, anstatt in einem der schneeweißen Leinenanzüge. Seine Tweedjacke war ebenso gut geschnitten wie seine übliche Garderobe; sie hatte nur wenig Ähnlichkeit mit den schäbigen Kleidungsstücken, in die Emerson sich gewöhnlich hüllt. Auf dem Kopf hatte der Amerikaner einen militärisch wirkenden Sonnenhut mit einem rot-weiß-blauen Band. Diesen zog er bei meinem Anblick elegant und bot mir den Arm, um mich zum Frühstückstisch zu geleiten.

Lady Baskerville nahm diese Mahlzeit selten mit uns zusammen ein. Die Männer hatten über die Gründe für ihr erhöhtes Ruhebedürfnis schon die verschiedensten Vermutungen angestellt; doch selbstverständlich wußte ich, daß sie die Zeit mit ihrer Toilette zubrachte, denn die Perfektion ihrer Erscheinung war offensichtlich das Ergebnis stundenlanger Arbeit.

Stellen Sie sich also meine Überraschung vor, als wir die Dame bereits am Tisch sitzend vorfanden. An diesem Morgen hatte sie sich nicht die Zeit zum Schminken genommen, und deshalb sah sie so alt aus, wie sie wirklich war. Unter den Augen mit den geschwollenen Lidern lagen dunkle Ringe, und um ihren Mund hatten sich Sorgenfalten eingegraben. Vandergelt war so erschrocken von ihrem Anblick, daß er einen besorgten Ausruf von sich gab. Sie gestand, daß ihr keine ungestörte Nachtruhe vergönnt gewesen sei, und sie hätte das wohl noch weiter ausgeführt, wäre nicht Milverton – oder besser gesagt: Arthur Baskerville – unter Entschuldigungen, weil er verschlafen hatte, hereingestürmt.

Von allen Anwesenden schien der Schuldige allein einen erfrischenden, traumlosen Schlaf genossen zu haben. Das dankbare Lächeln, das er mir immer wieder zuwarf, versicherte mir, daß seine Niedergeschlagenheit verflogen war.

Das war ein weiteres Zeichen der Unreife, die mir bereits aufgefallen war; da er einer weiseren, älteren Person sein Herz ausgeschüttet hatte, fühlte er sich nun von jeglicher Verantwortung befreit.

»Wo ist Miss Mary?« fragte er. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich bin sicher, daß Mrs. Emerson darauf brennt, ihren Gatten zu sehen.«

»Wahrscheinlich versorgt sie ihre Mutter«, antwortete Lady Baskerville in dem scharfen Ton, den sie immer an den Tag legte, wenn sie von Madame Berengeria sprach. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht, diese schreckliche Frau einzuladen? Aber da der Schaden nun nicht mehr abzuwenden ist, muß ich mich wohl damit abfinden. Allerdings weigere ich mich, allein mit ihr unter einem Dach zurückzubleiben.«

»Dann begleiten Sie uns doch«, schlug Vandergelt vor. »Wir richten Ihnen ein hübsches, schattiges Eckchen her.«

»Vielen Dank, mein Freund, aber ich bin zu müde. Nach dem, was ich letzte Nacht gesehen habe …«

Vandergelt sprang auf das Stichwort an, gab seiner Besorgnis Ausdruck und wollte Einzelheiten wissen. Ich fasse die Antwort der Dame zusammen, um auf die Seufzer und theatralischen Übertreibungen verzichten zu können. Befreit von all diesen bedeutungslosen Ausschmückungen war sie ganz einfach: Da sie nicht habe schlafen können, sei sie ans Fenster gegangen und habe die sattsam bekannte weißgekleidete Gestalt durch die Bäume huschen sehen. Diese sei in Richtung der Felsen verschwunden.

Ich sah Arthur an und erkannte an seinem treuherzigen Gesicht, was er beabsichtigte. Der junge Narr war kurz davor, auszurufen, daß auch wir die Frau in Weiß gesehen hatten – und das hätte die ganze Geschichte unserer mitternächtlichen Unterredung ans Tageslicht gebracht. Es war nötig, ihn aufzuhalten, ehe er etwas sagen konnte. Ich trat unter dem Tisch nach ihm, aber in meiner Hast verfehlte ich mein Ziel und landete einen kräftigen Treffer gegen Mr. Vandergelts Wade. Allerdings erfüllte auch das seinen Zweck; sein Schmerzensschrei und die darauf folgenden Entschuldigungen gaben Arthur Zeit, sich wieder zu fassen.

Vandergelt flehte Lady Baskerville weiterhin an, uns zu begleiten, und als sie sich weigerte, erbot er sich, bei ihr zu bleiben.

»Mein lieber Cyrus«, sagte sie mit einem liebevollen Lächeln, »Sie können es doch kaum noch erwarten, zu Ihrem widerlichen, schmutzigen Grab zu kommen. Nicht um alles in der Welt würde ich Sie dieser Gelegenheit berauben.«

Daraus ergab sich eine ausgedehnte und törichte Erörterung; und schließlich wurde entschieden, daß Arthur bei den Damen bleiben sollte. Also machten Vandergelt und ich uns auf den Weg. In letzter Minute schloß sich Mary uns atemlos und voller Entschuldigungen an. Da mich die Verzögerung noch unruhiger gemacht hatte, schritt ich so schnell aus, daß selbst der langbeinige Amerikaner mir kaum folgen konnte.

»Himmel, Mrs. Amelia« (oder vielleicht war es auch etwas anderes – was man in Amerika eben so sagt). »Die arme kleine Miss Mary ist ja schon ganz aus der Puste, noch ehe sie mit der Arbeit angefangen hat. Wissen Sie, es gibt keinen Grund zur Sorge. Wenn irgendein Frühaufsteher den Professor in seinem Blut vorgefunden hätte, wüßten wir es schon.«

Obwohl diese Bemerkung wohl tröstend gemeint gewesen war, gefiel mir die Ausdrucksweise nicht besonders.

Nach der getrennt verbrachten Nacht hatte ich erwartet, daß Emerson mich mit ein wenig Begeisterung begrüßen würde. Doch statt dessen starrte er mich nur einen Moment lang ausdruckslos an, als könne er sich nicht an mich erinnern. Als er mich endlich wiedererkannte, runzelte er sofort die Stirn.

»Du kommst zu spät«, sagte er vorwurfsvoll. »Am besten machst du dich gleich an die Arbeit. Wir haben schon einen ziemlichen Vorsprung, und die Männer sind schon auf einige kleine Gegenstände im Geröll gestoßen.«

»Sind sie das?« meinte Vandergelt gedehnt und strich sich über den Bart. »Das sieht aber nicht sehr ergiebig aus, nicht wahr, Professor?«

»Ich sagte doch schon, daß bereits im Altertum Räuber in das Grab eingedrungen sind«, fauchte Emerson. »Das bedeutet nicht notwendigerweise …«

»Ich verstehe. Was halten Sie davon, mich einmal einen kleinen Blick auf Ihre bisherige Arbeit werfen zu lassen? Dann mache ich mich nützlich, Ehrenwort. Ich schleppe sogar Körbe, wenn Sie wollen.«

»Nun gut«, antwortete Emerson in seinem unfreundlichsten Tonfall. »Aber beeilen Sie sich.«

Niemand außer dem begeistertsten Anhänger der Archäologie hätte diese Besichtigung für der Mühe wert befunden, denn der Gang, von dem inzwischen etwa fünfzehn Meter freigelegt waren, war ein unglaublich unangenehmer Aufenthaltsort. Er führte steil abwärts in einen finsteren, stickigen Abgrund, der nur vom dämmrigen Licht der Laternen erhellt wurde. Die Luft stank nach jahrtausendealtem Moder und war so heiß, daß die Männer sich aller Kleidungsstücke entledigt hatten, die nicht nach den Regeln des Anstandes erforderlich waren. Jede Bewegung, und war sie auch noch so vorsichtig, wirbelte den feinen, weißen Staub der Kalksteinbrocken auf, mit denen der Gang verschüttet gewesen war. Dieses kristalline Pulver klebte an den schweißbedeckten Körpern der Männer, was ihnen ein außergewöhnlich unheimliches Aussehen verlieh. Die bleichen Gestalten, die sich im feuchten Dunst bewegten, sahen aus wie zum Leben erwachte Mumien, bereit, sich auf diejenigen zu stürzen, die ihre Ruhe gestört hatten.

Teilweise verdeckt von grob gezimmerten Gerüsten blickten die gemalten Götter feierlich in die Dunkelheit. Thoth mit dem Ibiskopf, der Schutzgott der Gelehrsamkeit, Maat, die Göttin der Wahrheit, Isis und ihr falkenköpfiger Sohn Horus. Doch etwas erregte meine Aufmerksamkeit und ließ mich die abscheuliche Hitze und die stickige Luft vergessen: der Geröllhaufen. Am Anfang hatte er den Gang völlig versperrt. Inzwischen war er auf knapp Schulterhöhe geschrumpft und ließ einen Zwischenraum bis zur Decke frei.

Nach einem kurzen Blick auf die Gemälde griff sich Vandergelt eine Laterne und ging direkt auf den Geröllhaufen zu. Ich stellte mich auf Zehenspitzen und blickte über seinen Arm hinweg, als er das Licht nach vorne über den Haufen hielt.

Von dort an bildete der Schutt einen steilen Abhang. In der Dunkelheit jenseits des Lichtkegels der Laterne erhob sich eine solide Masse – das Ende des Gangs wurde genau wie der Anfang von einer Steinmauer blockiert.

Noch ehe einer von uns etwas sagen konnte, machte Emerson eine herrische Handbewegung, und wir folgten ihm in den Vorraum am Fuße der Treppe. Während ich mir den Staub vom schweißnassen Gesicht wischte, sah ich meinen Mann vorwurfsvoll an.

»Das ist also der wahre Grund für deine Entscheidung, in der letzten Nacht hier zu wachen! Wie konntest du das tun, Emerson? Haben wir den Nervenkitzel einer neuen Entdeckung nicht immer miteinander geteilt? Deine Unehrlichkeit erschüttert mich!«

Verlegen strich sich Emerson übers Kinn. »Peabody, ich schulde dir eine Erklärung. Ehrlich, ich wollte dich nicht ausschließen. Ich habe die Wahrheit gesagt; von nun an besteht ständig die Gefahr, daß das Grab ausgeraubt wird.«

»Und wann habe ich jemals vor der Aussicht auf Gefahr gekniffen?« wollte ich wissen. »Wann hast du dich jemals so erniedrigen müssen, die verachtenswerte Rolle meines Beschützers zu übernehmen?«

»Eigentlich ziemlich häufig«, erwiderte Emerson. »Nicht, daß ich damit oft erfolgreich gewesen wäre; aber, Peabody, deine Angewohnheit, dich Hals über Kopf in die schrecklichsten Gefahren zu stürzen …«

»Einen Moment mal«, unterbrach Vandergelt. Er hatte den Hut abgenommen und wischte sich methodisch den klebrigen Staub vom Gesicht. Offenbar war ihm nicht klar, daß dieser Staub, wenn er sich mit Schweiß mischt, die Beschaffenheit flüssigen Zements annimmt, der nun in seinen Spitzbart rann und von dessen Ende herabtropfte.

»Fangen Sie nicht wieder eine Ihrer Streitereien an«, fuhr er fort. »Ich habe nicht die Geduld, um abzuwarten, bis Sie sich geeinigt haben. Was zum Teufel ist da unten, Professor?«

»Das Ende des Gangs«, antwortete Emerson. »Und ein Brunnen oder ein Schacht. Ich konnte ihn nicht überqueren. Ich habe ein paar verrottete Holzstücke gefunden, die Überreste einer Brücke oder einer Abdeckung …«

»Von den Grabräubern zurückgelassen?« fragte Vandergelt, und seine blauen Augen blitzten.

»Möglicherweise. Sie hätten sich auf solche Hindernisse vorbereitet, die in den Gräbern dieser Epoche häufig anzutreffen sind. Falls sie aber eine Tür am gegenüberliegenden Ende gefunden haben, ist jetzt davon keine Spur mehr zu sehen – nur eine glatte Wand, auf deren Oberfläche die Gestalt von Anubis abgebildet ist.«

»Hmmm.« Vandergelt strich sich über den Spitzbart. Diese Bewegung löste eine Schlammlawine aus, die vorne an seinem einst sauberen Jackett hinunterrann. »Entweder liegt die Tür hinter dem Putz und dem Bild verborgen, oder die Wand ist eine Täuschung. Vielleicht befindet sich die Grabkammer woanders – auf dem Grunde des Schachts.«

»Genau. Wie Sie sehen, haben wir noch einige Stunden Arbeit vor uns. Wir müssen jeden Zentimeter des Bodens und der Decke sorgfältig untersuchen. Je näher wir an die Grabkammer kommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Falle.«

»Dann machen wir uns ans Werk!« rief ich aufgeregt.

»Eben das habe ich vorgeschlagen«, erwiderte Emerson.

Sein Tonfall war eindeutig sarkastisch, doch ich beschloß, das zu überhören, denn es gab Entschuldigungen für sein Verhalten. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Für den Augenblick hatte das Archäologenfieber das Detektivfieber abgelöst. Ich war schon an der Arbeit und siebte die erste Schuttportion durch, als mir einfiel, daß ich Emerson noch nichts von Arthurs Beichte erzählt hatte.

Doch ich sagte mir, daß kein Anlaß zur Eile bestand. Zweifellos würde Emerson darauf bestehen, das Tagespensum zu erledigen, ehe er zum Haus zurückkehrte. Und Arthur hatte versprochen, nichts zu unternehmen, bevor wir nicht Gelegenheit gehabt hatten, uns zu beraten. Erst in der Mittagspause vertraute ich mich Emerson an. Wir hatten uns unter das Zeltdach zurückgezogen, das aufgestellt worden war, um mich bei der Arbeit vor der Sonne zu schützen. Dort nahmen wir unser karges Mahl zu uns und ruhten uns ein wenig aus. Mary war unten und versuchte, die zuletzt entdeckten Gemälde zu kopieren. Sie konnte nur dann arbeiten, wenn die Männer eine Pause einlegten, denn die Staubwolken, die ihre Füße aufwirbelten, machten es unmöglich, etwas zu sehen, geschweige denn zu atmen. Man muß nicht hinzufügen, daß Karl sich in ihrer Nähe befand. Vandergelt hatte sein Essen hinuntergeschlungen und war sofort ins Grab zurückgekehrt, das ihn offenbar völlig in seinem Bann gefangenhielt. Emerson wäre ihm wohl gefolgt, wenn ich ihn nicht zurückgehalten hätte.

»Ich muß dir von meinem Gespräch mit Arthur letzte Nacht erzählen«, sagte ich.

Knurrend versuchte Emerson, seinen Ärmel aus meinem Griff zu befreien. Diese Aussage jedoch erweckte seine Aufmerksamkeit.

»Verdammt, Amelia, ich habe dir doch befohlen, unser Zimmer nicht zu verlassen. Ich hätte wissen sollen, daß Abdullah nicht Manns genug ist, um dich aufzuhalten. Warte nur, bis ich ihn in die Finger bekomme!«

»Es war nicht sein Fehler.«

»Dessen bin ich mir völlig bewußt.«

»Dann laß das Theater und hör mir zu. Ich versichere dir, die Geschichte wird dich interessieren. Arthur hat gestanden …«

»Arthur? Du hast dich wohl schon mit dem Mörder angefreundet! Warte mal – ich dachte, er heißt Charles.«

»Ich nenne ihn Arthur, denn es wäre verwirrend, wenn ich seinen Familiennamen und seinen Titel benutzen würde. Er heißt nicht Milverton.«

Mit einer Leidensmiene ließ Emerson sich auf den Boden sinken, doch als ich am Höhepunkt meines Berichts angekommen war, hörte er auf, sich um einen gelangweilten Ausdruck zu bemühen.

»Du meine Güte!« rief er aus. »Wenn er die Wahrheit sagt …«

»Dessen bin ich mir sicher. Er hätte keinen Grund zu lügen.«

»Nein – nicht, wenn man die Fakten nachprüfen kann. Begreift er denn nicht, in was für eine unangenehme Lage ihn das bringt?«

»Das tut er gewiß. Doch ich habe ihn überredet, reinen Tisch zu machen. Die Frage ist nur, wem er seine Geschichte erzählen soll.«

»Hmmm.« Emerson zog die Beine an und stützte die Unterarme auf die Knie, während er darüber nachdachte. »Er muß seine Identität beweisen, wenn er Anspruch auf den Titel und den Besitz erheben will. Wir sollten uns am besten direkt mit Kairo in Verbindung setzen. Dort wird man bestimmt überrascht sein.«

»Darüber, daß er hier ist, gewiß. Obwohl ich mir sicher bin, daß seine Existenz als Erbe den Leuten in der Verwaltung, die sich mit diesen Dingen beschäftigen, bekannt sein muß. Warum habe ich nicht selbst daran gedacht? Denn Lord Baskervilles Erbe kommt selbstverständlich zuerst als Verdächtiger in Frage.«

Emersons dichte Brauen zogen sich zusammen. »Das wäre so, wenn es sich bei Lord Baskervilles Tod um einen Mord handeln würde. Ich dachte, du seist zu dem Schluß gekommen, daß Armadale der Mörder ist.«

»Das war, ehe ich Milvertons – ich meine Arthurs – wahre Identität entdeckte«, erklärte ich geduldig. »Selbstverständlich leugnet er, seinen Onkel umgebracht zu haben …«

»Ach, tut er das?«

»Du erwartest doch wohl kaum, daß er es zugibt.«

»Natürlich nicht; aber du, wenn ich mich recht entsinne. Wie dem auch sei, heute abend – oder morgen – unterhalte ich mich einmal mit dem jungen Narren, und dann werden wir sehen, welche Schritte wir am besten unternehmen. Und jetzt haben wir genügend Zeit verschwendet. An die Arbeit.«

»Ich finde, wir sollten in dieser Angelegenheit umgehend handeln«, sagte ich.

»Ich nicht. Das Grab duldet keinen Aufschub.«

Nachdem Mary ihre Kopien der Gemälde fertiggestellt hatte, kehrte sie zum Haus zurück. Wir anderen gingen wieder an die Arbeit. Im Laufe des Nachmittags wurde ich im Schutt immer häufiger fündig – irdene Scherben, Stücke blauer Fayence und viele Perlen, die aus der gleichen, glasähnlichen Substanz geformt waren. Die Perlen waren eine Plackerei, denn sie waren sehr klein, und ich mußte jeden Zentimeter Schutt durchsieben, damit ich keine übersah.

Die Sonne wanderte nach Westen, und ihre Strahlen drangen unter mein Zeltdach. Ich suchte immer noch nach Perlen, als ein Schatten auf meinen Korb fiel. Ich blickte hoch und sah Mr. O’Connell. Er zog elegant den Hut und kauerte sich dann neben mich.

»Es ist wirklich ein Jammer, mitanzusehen, wie eine schöne Frau sich mit solcher Arbeit die Hände und den Teint ruiniert«, sagte er freundlich.

»Verschwenden Sie Ihren irischen Charme nicht an mich«, meinte ich. »Allmählich empfinde ich Sie als schlechtes Omen, Mr. O’Connell. Immer wenn Sie auftauchen, geschieht ein Unglück.«

»Ach, seien Sie doch nicht so streng mit einem armen Burschen wie mir. Heute bin ich nicht so fröhlich wie sonst, Mrs. Emerson. Das ist die reine Wahrheit.«

Er seufzte. Da fiel mir mein Plan ein, diesen anmaßenden jungen Mann für unsere Sache einzuspannen, und ich milderte meinen scharfen Tonfall. »Also ist es Ihnen nicht gelungen, Ihren Platz in Miss Marys Herzen zurückzuerobern?«

»Sie sind eine scharfsinnige Frau, Mrs. E. Genau gesagt, ist sie immer noch wütend auf mich. Bei Gott, sie ist eine niedliche kleine Tyrannin.«

»Wie Sie wissen, hat sie noch weitere Verehrer. Und die lassen ihr wenig Zeit, einem unverschämten, rothaarigen Journalisten nachzutrauern.«

»Genau das befürchte ich«, erwiderte O’Connell bedrückt. »Ich komme gerade vom Haus. Miss Mary weigert sich sogar, mich zu empfangen. Sie ließ mir ausrichten, ich solle mich entfernen, oder sie würde mich von den Dienstboten hinauswerfen lassen. Ich bin mit meiner Weisheit am Ende, Mrs. E., und das ist die reine Wahrheit. Ich möchte einen Waffenstillstand. Ich akzeptiere alle vernünftigen Bedingungen, wenn Sie mir helfen, einen Frieden mit Mary auszuhandeln.«

Ich senkte den Kopf und gab vor, mit meiner Arbeit beschäftigt zu sein, um mein zufriedenes Lächeln zu verbergen. Ich war schon bereit gewesen, ihm einen Kompromiß anzubieten, und nun befand ich mich in der glücklichen Lage, die Bedingungen bestimmen zu können.

»Was schlagen Sie vor?« fragte ich.

O’Connell schien zu zögern; doch als er sprach, sprudelten die Worte so ohne Stocken aus ihm heraus, daß er sich seinen Plan ganz offensichtlich im vorhinein zurechtgelegt hatte.

»Ich bin ein sehr charmanter Bursche«, sagte er bescheiden. »Doch wenn ich das Mädchen nie zu Gesicht bekomme, nützt mir mein ganzer Charme nichts. Falls ich aber eingeladen würde, bei Ihnen zu wohnen …«

»Ach, du meine Güte, ich weiß nicht, wie ich das zuwege bringen sollte«, sagte ich erschrocken.

»Mit Lady Baskerville gäbe es keine Schwierigkeiten. Sie hat eine sehr hohe Meinung von mir.«

»Oh, ich bezweifle nicht, daß Sie Lady Baskerville um den Finger wickeln können. Leider ist Emerson nicht so leicht zu beeinflussen.«

»Ich kann ihn überzeugen«, beharrte O’Connell.

»Wie?« fragte ich geradeheraus.

»Wenn ich zum Beispiel verspräche, ihm alle Berichte vorzulegen, ehe ich sie an meinen Chefredakteur schicke.«

»Würden Sie sich wirklich darauf einlassen?«

»Ich würde es hassen wie die Pest – entschuldigen Sie, Ma’am, meine Gefühle haben mich übermannt –, der Gedanke gefällt mir überhaupt nicht. Aber ich würde es tun, um mein Ziel zu erreichen.«

»Ach, die Liebe«, meinte ich spöttisch. »Wie wahr es doch ist, daß zarte Gefühle einen bösen Menschen läutern.«

»Sagen Sie lieber, daß sie das Gehirn eines klugen Menschen aufweichen«, antwortete O’Connell niedergeschlagen, und nach einem Augenblick verzogen sich seine Mundwinkel zu einem reumütigen Lächeln, völlig frei von dem Hohn, der so oft seine Züge verzerrte. »Sie haben auch recht viel Charme, Mrs. E. Ich glaube, sie sind ziemlich gefühlvoll, auch wenn Sie versuchen, das zu verbergen.«

»Unsinn«, sagte ich. »Und nun verschwinden Sie besser, ehe Emerson Sie entdeckt. Ich werde Ihren Vorschlag heute abend mit ihm besprechen.«

»Warum nicht jetzt? Ich brenne darauf, Mary endlich den Hof zu machen.«

»Fordern Sie Ihr Glück nicht heraus, Mr. O’Connell. Wenn Sie morgen um diese Zeit zur Ausgrabungsstelle kommen, habe ich vielleicht gute Nachrichten für Sie.«

»Ich wußte es!« rief O’Connell aus. »Ich wußte, eine Dame mit Ihrem Gesicht und Ihrer Figur kann nicht grausam zu einem Liebenden sein!« Er packte mich um die Taille und drückte mir einen Kuß auf die Wange. Sofort griff ich nach meinem Sonnenschirm und wollte schon nach ihm schlagen, doch er entwischte mir. Dann warf mir der unverschämte Lümmel ein Kußhändchen zu und schlenderte breit grinsend davon.

Allerdings entfernte er sich nicht weit; immer wenn ich von meiner Arbeit aufblickte, sah ich ihn unter den gaffenden Touristen. Trafen sich unsere Blicke, preßte er seufzend die Hand aufs Herz oder blinzelte und zog lächelnd den Hut. Obwohl ich es nicht zeigte, konnte ich nicht anders, als mich darüber zu amüsieren. Nach etwa einer Stunde hatte er wohl den Eindruck, seinem Anliegen ausreichend Nachdruck verliehen zu haben; er verschwand und ward nicht mehr gesehen.

Der glutrote Ball der Sonne stand tief im Westen, und die blaugrauen abendlichen Schatten fielen kühl auf den Boden, als das eintönige Ausleeren der Körbe abrupt endete, woraus ich schloß, daß etwas geschehen sein mußte. Ich blickte auf und sah die Männer aus dem Grab kommen. Emerson hat sie doch sicherlich noch nicht nach Hause geschickt, dachte ich; es wird ja erst in einer Stunde dunkel. Sofort ging ich, um nachzusehen.

Der Schutthaufen hatte sich erheblich verringert. Er bestand nun nicht mehr ausschließlich aus kleinen Steinen und Kieseln. Inzwischen war die Ecke eines massiven Steinquaders sichtbar geworden. Emerson und Vandergelt standen daneben und betrachteten etwas auf dem Boden.

»Komm her, Peabody«, sagte Emerson. »Was hältst du davon?«

Mit dem Finger zeigte er auf einen braunen, brüchigen Gegenstand, der ganz mit Kalkstaub bedeckt war. Vandergelt machte sich daran, diesen mit einer kleinen Bürste zu entfernen.

Aufgrund meiner Erfahrung in solchen Dingen wußte ich sofort, daß es sich bei dem seltsamen Gegenstand um einen mumifizierten, menschlichen Arm handelte – oder vielmehr die zerfallenen Überreste eines solchen, da der Großteil der Haut fehlte. Die blanken Knochen waren braun und brüchig vom Alter, die verbliebenen Hautfetzen zu einer harten, ledrigen Schicht verschrumpelt. Durch einen merkwürdigen Zufall waren die zarten Fingerknochen nicht beschädigt; sie waren ausgestreckt, als flehten sie verzweifelt um Luft – um Rettung –, um ihr Leben.

Amelia Peabody 02: Der Fluch des Pharaonengrabes
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